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Lange leb ich schon an diesem Ort

Unten am Hang strömen Gebirgsquellen hervor,
die Kinder fangen Schmetterlinge
und die Tannen, stumm und hochgewachsen,
blättern still die Jahrhunderte um.
Lange leb ich schon in dieser Gegend
und bin allmählich nachgedunkelt von der Zeit.
Sieh, sag ich mir, sieh dich doch an: wie bist du –
du bist nicht wiederzuerkennen!
Einst waren diese Augen bodenlose Tiefen,
in welche deine Wünsche tauchten
wie Kraniche in sonnenbeglänzte Wasserspiegel.
Jetzt aber sind sie trocknen Pfützen gleich,
wo zufällige Regen Obdach finden für die Nacht.
Einst waren Pflüger diese Arme
und pflügten in der lockern Erde deiner Wanderungen –
jetzt sind sie dürr wie trockne Weidenruten
und Knorren hochgeschoßner Triebe überm Wasser.
Einst – weißt du noch? Einst hast auch du gespielt
mit Schmetterlingen auf der flachen Hand,
von deren goldnem Blütenstaub
erblüht der Weichselbaum in deinem Garten.
Warum warst du so achtlos, so gedankenlos
und ließest alles sterben zwischen deinen Fingern?
Warum hast du die große Weisheit nicht begriffen,
dir lebend zu bewahren deiner Kindheit Schmetterling
und in den Händen einen warmen Stern,
um zu erhellen diesen Ort,
den Ort, wo du schon lange einsam lebst,
schon lang, allmählich nachgedunkelt von der Zeit.

Aco ŠopovUnwirklichkeit (Небиднина), 1963
Gedicht übersetzt von Ina Jun-BrodaSchwarze Sonne, 2012
Erstmals veröffentlicht in Literatur und Kritik, 39, October 1969, S. 522