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Klage vom Jenseits des Lebens

Ich klettere auf den Gipfel des Schmerzes.
Mensch bin ich. Doch was ist ein Mensch?
Leere vor mir. Leere hinter mir.
Abgründe, die sich selbst entzündet.
Jenseits des Lebens –
lebendig gekreuzigt, ausgespannt zwischen grausamen Knoten.
Ich schwang mich bis auf den Gipfel des Wehs
an diesem Tag, schwarzen Tag. Über schwarzen Schründen.

Ich schwang mich bis auf den Gipfel des Wehs.
jenseits des Lebens,
jenseits von mir selber,
auf alles Unausgesprochene,
auf alles Unausgegorene,
jenseits des Wassers,
jenseits der Strudel,
jenseits der Wurzeln.

Knoten, löse dich!
Wasser ergieße dich!
Fließe über, Kelch der Klagen!
Für alle Städte in dieser Stadt,
für alle Trauer in diesem Schwarz.
Wen soll ich anklagen, sagt,
wen soll ich beweinen, sagt es mir!
Kind, du verlorenes,
mein schwarzes Leid – dein warmes Kleid –

Мein schwarzes Leid – dein warmes Kleid –
deine Dunkelheit – mein Grabgewand.
Erde, klagende Erde, versagende,
aus totem Weinen geborene,
Erde, spalte dich,
Erde entfalte dich!
Nimm auf diesen Weizenkern,
nimm auf diesen Augenstern,
erloschen in deiner Hand.

Nimm mich, Erde, oder hol mich wieder
hinab von diesem Gipfelgrat,
zurück vom Jenseits des Lebens,
flöß mir ein neue Menschenkraft,
o Erde, stell mich auf die Erde nieder –
Mensch bin ich, Mensch: zu leiden, zu trauern,
einen Felsblock zu finden, um mich einzumauern
in eine Brücke, einen Säulenschaft.

Aco Šopov, Der aus der Asche weissagt (Гледач во пепелта), 1970
Gedicht übersetzt aus dem Makedonischen von Ina Jun-Broda, Schwarze Sonne, 2012

Inspiriert durch das Erdbeben von Skopje (Juli 1963) wurde dieses Gedicht zuerst in Sovremenost (XV, 6, 1965) und dann in Goldener Kreis der Zeit (1969) veröffentlicht.
Die deutsche Übersetzung wurde erstmals veröffentlicht in Ina Jun-Broda: Beschwingter Stein, Jugend und Folk Verlagsgesellschaft, Wien-München, 1976, SS. 47-48.