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Wiedergeburt einer Sprache: Zu den Gedichten des mazedonischen Lyrikers Aco Šopov*

Aco Šopov, Georgi Stardelov, Ina Jun Broda

Aco Šopov (links) und Ina Jun Broda, mit dem Literaturkritiker Georgi Stardelov. Dichtertagungen in Struga (zwischen 1976 und 1979).

Ina Jun-Broda

Am südwestlichsten Zipfel des Ohrid-Sees, dort, wo sich augenblicklich nicht einmal mehr die Füchse gute Nacht sagen, sondern nur von hölzernen primitiven türkischen Wachtürmen herab misstrauisch von der albanischen Grenze durch ein menschenleeres, von Grenzschneisen unterbrochenes grünes Dickicht zur jugoslawischen Seite hinüberschielen, haben vor etlichen Jahrhunderten Naum und Kliment, die Jünger der slawischen Apostel Cyrillus und Methodius die Grundlagen zu einer slawischen Kultur geschaffen. Dort entstand das neue Alphabet und die erste Bibelübersetzung. Dort steht auch heute noch das Kloster des heiligen Naum über dem See, mit seinen rohen Ziegeln und seinen seefarbenen Fresken im Innern — reizvoll in den Proportionen und ganz und gar nicht kyklopisch monumental, sondern eine Architektur „nach Menschenmaß“.

Später aber mußte diese Sprache und ihre Kultur verstummen. Bis in unsere Zeit war sie zum Schweigen verdammt. Das mazedonische Volk, zwischen Byzanz und Rom an der Via Egnatia lebend, hatte eine reiche Baukultur, schuf großartige Klosterkirchen und Städtchen, einen Schatz an Volksliedern und Epen, aber es gab keinerlei Entwicklungsmöglichkeiten für Schriftsprache und Literatur. Offiziell gab es bis zum Ende des zweiten Weltkriegs auch im alten Jugoslawien weder eine mazedonische Nation noch deren Sprache. Ein Volk, das Herrscherpersönlichkeiten wie den Zaren Samuilo hervorgebracht hatte, lebte zuerst unter den Türken und nach den Balkankriegen, 1912, verteilt auf drei Staaten und durfte bis zur Konstituierung einer Volksrepublik Mazedonien innerhalb des föderalen Staaten Jugoslawien im Jahre 1945 nicht weder einen Namen haben, noch Schulen in seiner Sprache. Im alten Jugoslawien hieß es Südserbien, Altserbien oder Vardar-Banat und auch heute noch haben seine in Bulgarien bzw. in Griechenland lebenden Volksteile, die sogenannten Pirin-Makedonier oder ägäische Makedonier nicht den Status einer eigenständigen Nation.

Erst seit 1945 werden die mazedonischen Kinder innerhalb Jugoslawiens, in ihrer Muttersprache unterrichtet, bekommen mazedonische Fibeln und Lesebücher. Die älteste mazedonische Rechtschreibung ist erst zwanzig Jahre alt, das erste Wörterbuch mit Erklärungen in mazedonischer sowie serbokroatischer Sprache erschien 1961 und ist eine wirkliche Kulturtat. Herausgegeben von dem Dichter und Sprachforscher Blaže Koneski unter Mitarbeit bedeutender Philologen, umfasst es insgesamt 64 500 Worte aus dem archaischen Wortschatz der Volkslieder, sowie Provinzialismen, die colloquiale Alltagssprache und eingebürgerte Fremdworte aus dem Bereich der modernen Wissenschaft und Technik, was der Schriftsprache großzügige Entwicklungsmöglichkeiten und eine farbige Variabilität verleiht.

Der erste Roman in makedonischer Sprache erschien in den Fünfziger Jahren, „Das Dorf hinter den sieben Erlen“. Sein Autor, Slavko Janevski sonst ein bestechend eigenwilliger und moderner Lyriker, scheint es bei diesem Buch als seine Aufgabe empfunden zu haben, seine scheintoten Muttersprache aus dem Dornröschenschlaf zu wecken.

Seit dem von den Brüdern Miladinov eingeleiteten makedonischen „Risorgimento“ im neunzehnten Jahrhundert ist für viele Dichtergenerationen das schöpferische Gestalten, das Mitbasteln, das Aufpfropfen edler moderner Reiser auf die naturbelassene, noch nicht ausgebaute, aber ausbaufähige Sprache nicht nur ein politisches Anliegen, sondern eine wahre Leidenschaft.

Die trotz ihres Reichtum für eine Moderne lyrische Thematik mit seelischen Differenzierungen noch zu wenig geformte, ungefüge Sprache mit ihrer, unter dem Einfluß der griechischen und albanischen Nachbarn, unelastisch gebliebenen Grammatik — zum Unterschied von der Geschmeidigkeit der Deklinationen anderer slawischer Sprachen — war und ist den makedonischen Dichter Hemmnis, Anreiz und Ansporn zugleich, ihre Sprache schöpferisch auszubauen, vom zarten, nahezu anbetenden Werben um das Wort bis zu einer männlichen Vergewaltigung des Wortes.

Jede Literatur braucht ihre Zeit für ein organisches Wachstum, kein Volk kann mit einem Sprung in eine Epoche der Poesie hineingeraten, die zu erreichen andere Nationen Jahrhunderte der Entwicklung und Jahrzehnte großstädtischen und industriellen Lebens benötigt haben. Ein solcher Versuch würde zur Entwurzelung führen und zur bloßen Imitation verleiten. Doch kann man Epochen in rascherem Tempo durchlaufen, auch ohne etwas organisch Notwendiges zu überspringen.

Bei der Dichtertagungen in Struga am Ohridsee 1968 — die Tagungen finden alljährlich statt und haben bereits Tradition — war es ungemein erregend, die Ergebnisse des rapiden Wachstums des mazedonische Sprache zu konstatieren, dieses Phänomen eines gleichzeitigen und gleichberechtigten Nebeneinander von Dichtungen im traditionellen Volkston alter Legenden und modernstem Dichtungen von individueller Formen und neuem Inhalt. Nicht nur Dichter besuchen die dort stattfindenden  Lesungen, sondern Zuhörer aus allen Schichten, Kinder, Hausfrauen, Halbwüchsige — und alle sind interessiert und fasziniert. Sprache und Wort, ihre Bedeutung für die nationale Substanz, das ist eine allgemeine „Präokkupation“.

„Makedonia“, als Lebensgefühl und Problem, angefangen von den Anklängen an heidnische Mythen bis zur politischen Satire, bildet das Hauptmotiv der Dichtung. Daneben wirkt die Landschaft: Der See, die fast magische Qualität der Wasser von Ohrid, Prespa und Dojran, Nebel, in denen sich die Konturen der Ufer verlieren, die Fresken an den Klosterwänden, die altgoldfarbenen Girlanden der trocknenden Tabakblätter, die das spätsommerliche Landschaftsbild bestimmen. Neben diesen visuellen Elementen dominiert die Sprache als Motiv, das Entstehen des Wortes, die Kreation und „Vermählung“ mit dem Lied.

Für den Lyriker Aco Šopov bedeutet das magische Spiel mit einer noch nicht durch Regeln zu sehr fixierten Sprache eine schöpferische Verführung. Immer kehrt das Motiv des künstlerischen Zeugungsaktes wieder, erotisch-kreativ verschmelzen bei ihm Wort, Lied und Frau in eins. Nicht zufällig heißt eines seiner Gedichte „Geburt des Wortes“ und in seinem „Lied“ finden sich die Zeilen: „Senk unfehlbar dich in mein Herz — ein Speer!“, während es in „Nacht am Klostersee“ heißt: „Man hat uns ertappt, mein Lied, bei unsern ersten Sünden…“ Sprache ist ihm ein Feuer, das unterirdisch „unter tollen Gewässern“, schwelt, ein Feuer, nach dem er „mit drei Messern“ schürft.

Die ausserordentliche dichterische Begabung Aco Šopov ist ein Phänomen wie der Blütenstengel einer Agave, der aus jahrhundertelang scheintotem Blattwerk plötzlich hochschießt und fix und fertig dasteht. Der Ton seiner Dichtungen ist sowohl traditionsgebunden, fast archaisch, als auch ganz modern, wenn auch nicht im Sinne der neuesten unterkühlten „Antilyrik“.  Eigentlich gehört Šopov, wie auch die übrigen Lyriker Mazedoniens, infolge dieser späten nationalen  Wiedergeburt, ins neunzehnte Jahrhundert. Manchmal erinnert er an Baudelaire, nur ohne den Fluch des poète maudit, eher durch den Metaphernreichtum und die Leidenschaftlichkeit seines Temperaments — gleichsam sein jüngerer, sanfterer Bruder. Etwas Adoleszentenhaftes ist an Šopov merkbar, obwohl er zu der mittleren Generation gehört, wahrscheinlich kommt es aus dem Erlebnis des Krieges, den er als Angehöriger der jüngsten Jahrgänge des jugoslawischen Widerstands mitgemacht hat. Die Passion der Krieges kommt weniger in seiner Thematik zum Ausdruck  — höchstens bei sehr frühen Gedichten als in der Intensität seiner Visionen, seiner Versenkung in die Tiefen des Bewusstseins und Unterbewusstseins, wie man sie während nächtelanger Märsche wachträumend erlebt; Träume, in die man sich flüchtet, vor dem Tod und dem Wahnsinn; um Dichter zu werden, und auf des Wortes blauglühender Kohle zu verglühen…, wie es in dem Gedicht „Geburt des Wortes“ heißt.
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* Dieser Text wurde in der österreichischen Zeitschrift Literatur und Kritik, Nr. 39, Oktober 1969, SS. 518-520, veröffentlicht. Dem Text folgen die Gedichte: Geburt des Wortes, August, Lange leb ich schon an diesem Ort, Liebe, Klosterkirche am Ufer, Lied, Drittes Gebet meines Leibes, Nacht am Klostersee, Bitte um ein gewöhnliches, noch nicht erfundenes Wort, Das letzte Gebet.

Das Typoskript einer älteren Version befindet sich im Aco Šopov Fonds im Archiv der Mazedonischen Akademie der Wissenschaften und Künste: АШ К3 АЕ37